Die allgegenwärtige Digitalisierung, Teil II

Die allgegenwärtige Digitalisierung - oder: wie wirklich ist die Wirklichkeit? (Teil II)

Im ersten Teil dieses Beitrags habe ich meinen Befindlichkeiten über das Kommunikationsverhalten pro/contra Digitalisierung ziemlich freien Lauf gelassen. Zuspruch wie Kritik dafür habe ich gleichermaßen gerne angenommen (Danke für die zahlreichen Rückmeldungen, offenbar habe ich einen Nerv getroffen).

Es „menschelt“ halt. Wie immer, wenn uns etwas emotional beschäftigt. Das gilt auch für die Vorstellung, wie Technologien und Maschinen immer stärker in unseren Alltag vordringen. Und die Bewertung dessen, was sie mit uns machen (werden) und was das mit uns macht. Logisch, dass dies ebenfalls zu einer Menge emotional geprägter Interpretationen führt. Und je nach Färbung der Gefühls-Brille auf unserer Nase (in zahllosen Nuancen von glasklar über rosarot bis tiefschwarz), entstehen auf diese Weise völlig unterschiedliche Bilder einer vermeintlichen Wirklichkeit. Anlass genug, sich im Kontext der Digitalisierung ein wenig tiefer damit auseinanderzusetzen.

 

Freund oder Feind

Wenn sich unser gewohntes Umfeld verändert oder ein erwarteter Umstand anders kommt, läuft bei uns ein uraltes „Automatikprogramm“ ab. Damals in der Wildnis täglich überlebenswichtig, hilft es uns heute immer noch, unsere körperliche und geistige Unversehrtheit zu bewahren. Was passiert? In diesem Modus richten wir unbewusst den Fokus auf (potenziell) Negatives. So können wir am schnellsten das Gefahrenpotenzial einschätzen. Droht tatsächlich Gefahr, oder können wir die Situation nicht mindestens neutral einschätzen, verstärkt sich unsere Neigung zu affektiven Handlungen. Dadurch kürzen wir langsame rationale Denkprozesse ab und handeln intuitiv, reflexhaft. In Gefahrensituationen reagieren wir dann ohne nachzudenken. Der durch diverse Neurotransmitter erzeugte Stresslevel überfordert uns jedoch bisweilen. Besonders häufig können wir das im Straßenverkehr beobachten: Wenn ansonsten hochanständige Bürger plötzlich nach allen Regeln der Kunst emotional völlig entgleisen, weil ihnen bspw. unvermittelt die Vorfahrt genommen wird.

 

Da wir nun gemäß unserer Sozialisation unsere Gefühle lieber verbergen (sollen) und einige gar vor sich selbst oder einem drohenden Kontrollverlust zurückschrecken, fürchten sich etliche Menschen vor (den Konsequenzen) einer Veränderung. Ich meine damit keine konkrete Angst, wie wir sie als Kinder nachts im Bett erlebt haben, als das Monster sich im Kleiderschrank regte. Eher so ein diffuses, bedrohliches Unbehagen, ähnlich wie bei einem rasch heraufziehenden Gewittersturm. Für Sachargumente oder Logik sind wir in solchen Momenten jedenfalls kaum noch zugänglich.

 

Alptraum Realität

Angst vor Veränderung kann natürlich auch von unserer Phantasie beflügelt werden: Wenn die Vorstellung einer negativen Auswirkung in Gedanken bereits Realität wird. Kennen Sie pessimistisch eingestellte Menschen oder gehören selbst dazu? Sie können sich selbst und anderen ganz schön zu schaffen machen. Doch irgendwann gewöhnen sich (fast) alle von uns an eine neue Situation und schalten zurück in den rational dominierten Normalzustand. Gleiches gilt, wenn wir zwar Gefahr erkennen, diese jedoch als unbedeutend oder beherrschbar einstufen. Was bei manchen Menschen eher geschieht als bei anderen und wesentlich vom (positiven) Selbstbild abhängt.

 

Nun gibt es Menschen, die lechzen förmlich nach Veränderung. Angst in diesem Zusammenhang ist unerheblich oder gänzlich unbekannt. Was ist mit denen? Das kommt darauf an: Unzufrieden mit oder gar bedroht in der derzeitigen Situation? Vielleicht völlig unter- oder überfordert? Dann ist der Antrieb zur Veränderung „weg von …“ einer negativen Situation stärker als die Angst vor möglichen Gefahren. Meist verbunden mit der Hoffnung, dass der Weg nicht allzu steinig wird. Dem gegenüber steht noch die Motivation für Veränderungen „hin zu …“ einer neuen Situation. Diesmal verbunden mit der Hoffnung auf eine bessere, schönere Zukunft. Oft begleitet von positiven Erwartungen, geweckten Sehnsüchten, Wunschträumen oder Visionen.

 

Vom Guten im Schlechten

Ja, und dann wäre da noch die Neugier. Dem Interesse an der Erforschung des Unbekannten, der Drang zur Beseitigung von Unklarheiten. Das Bedürfnis, über sich selbst (oder andere) hinaus zu wachsen. Die ganze menschliche Bandbreite halt. So schwer nun der Umgang mit derlei vielfältigen Zeitgenossen manchmal fällt, es gibt auch eine gute Nachricht: Abgesehen von einigen besonders neurotischen Charakterstrukturen (Interessierte siehe Riemann: „Die Grundformen der Angst“) sind das alles stinknormale Verhaltensweisen! Insofern besteht überhaupt kein Grund, um darauf verärgert, hysterisch oder schulmeisterlich zu reagieren. Es ist, wie es ist: Bezogen nun auf das, was wir mit der Digitalisierung erleben, haben wir es eben auch mit einer Vielzahl an emotionalen Sichtweisen zu tun.

 

Ich halte es allerdings für wenig zielführend zur Förderung des Wandels, deshalb gleich auf alle erdenklichen Befindlichkeiten eingehen zu müssen. Das ist weder erforderlich noch sinnvoll, denn mit der Zeit reguliert sich die Affektsteuerung bei den meisten von selbst. Gleichwohl empfinde ich es als unsere gesellschaftliche wie unternehmerische Verantwortung – bei allem Respekt vor den sachbezogenen Interessen und Zwängen – die Emotionalität des Wandels in gebührender Weise zu achten. Das heißt zunächst einmal, Ängste und Widerstände zuzulassen. Ihre destruktiven Kräfte zu respektieren. Um im weiteren Verlauf den Fokus auf die Hoffnung und die Neugier zu richten. Mit Verständnis für die Gefühlslage einerseits und wohlwollenden Dialoge über glaubwürdige, erstrebenswerte Perspektiven andererseits. Und falls dies gerade nicht gewollt ist, braucht es vielleicht einfach nur mehr Zeit zur Gewöhnung. Denken Sie nochmal an das Monster im Schrank …

 

Pauschalierter Unsinn

Das mag jetzt alles sehr pathetisch klingen. Doch worum es mir im Kern geht, ist für mehr Bewusstsein und Toleranz im Umgang mit Emotionen zu plädieren. Besonders im unternehmerischen Alltag kommt es primär auf die Fakten, die Sachlage an. Und das ist im Sinne einer wirtschaftlich seriös handelnden Organisation sicherlich gut und richtig. Gleichzeitig stelle ich in Gesprächen fest, dass quer durch die Belegschaften höchst ambivalente Haltungen zu den Chancen und Risiken der Digitalisierung existieren. Und diesbezüglich gibt es eben kein richtig oder falsch. Aussagen wie „Du musst aber …“ oder „Du darfst nicht …“ helfen da keinen Deut weiter. Nicht nur in der Physik gilt: Druck erzeugt Gegendruck!

 

Nehmen wir das einfache und viel zitierte Beispiel, (zeitweilig) von Zuhause zu arbeiten: Der Chef schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, sieht sich dem völligen Kontroll- und Machtverlust ausgesetzt. Manche Mitarbeitenden begrüßen es mit Handkuss, hoffen auf mehr Flexibilität und Selbstbestimmung in der Tages- oder Familienplanung. Andere bekommen schlaflose Nächte, fürchten sich davor, ausgegrenzt oder nicht mehr gewachsen zu sein. Was genau ist jetzt die Wirklichkeit? Wer hat bekommt Recht? Die Konzepte und Botschaften dieser Tage sehen eine differenzierte Betrachtung der Standpunkte nur selten vor. Da heißt es lieber schlicht, „eine flexible Wahl von Arbeitsort und -zeit erhöht die Motivation der Belegschaft um x%“ oder so ähnlich.

 

Wahrheit oder Wagnis

Im privaten Umfeld haben wir bezüglich digitaler Errungenschaften (noch) die Wahl, ob und wann wir uns auf eine Veränderung einlassen. Somit ist genügend Zeit, die damit verbundenen Emotionen zu verarbeiten. Es ist dann unsere Entscheidungsfreiheit, entweder einem spontanen Impuls zu folgen oder – nach einiger Zeit und mit ein wenig Abstand – die Gefahren und Möglichkeiten lieber rational abzuwägen. Wir bestimmen selbstverantwortlich, was zu uns passt. Wann wir uns an eine neue Situation gewöhnt haben. Und wie wir uns, dann begleitet von Zuversicht oder Neugier, ihr nähern möchten.

 

Schwieriger ist es bei Veränderungen im beruflichen Alltag. Hier bestimmen die Kunden, die Anteilseigner, die Wettbewerber und letztlich die Führungskräfte den Umfang und die Geschwindigkeit der erforderlichen Anpassungen. Ob nun bereits real oder noch rein hypothetisch: Oft bleibt gar keine Chance, die Deutungshoheit über eine vorgegebene, neue Wirklichkeit zu erlangen. Schlimmer noch: Bevor wir (Chefs wie Mitarbeitende) uns an eine veränderte Situation gewöhnen können, steht schon der nächste Richtungswechsel an. Die Taktfrequenz hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen und wird wohl noch weiter zunehmen. Das halte ich für einen Hauptgrund, warum der digitale Wandel so viele Befindlichkeiten auslöst. Und warum die psychische Belastung, der Stresspegel am Arbeitsplatz stetig steigt.

 

Was wir dagegen tun können? Widerstand erscheint zwecklos, das mussten bereits in früheren industriellen Umwälzungen schon die Handweber und Maschinenstürmer erkennen. Doch wir können etwas dafür tun: lernen zu akzeptieren, was ist. Die Fähigkeit und Bereitschaft zur Annahme des unvermeidlichen Teils unserer Wirklichkeit  trainieren. Einige (achtsamkeitsorientierte) Ansätze der Verhaltenspsychologie bspw. zielen explizit darauf ab, mehr Distanz zu kontrollorientierten Gedanken zu erlangen.

 

„Willkommen in der Wüste der Wirklichkeit!“ (Aus dem Film „Matrix“, 1999)