Die allgegenwärtige Digitalisierung

Die allgegenwärtige Digitalisierung - oder: wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Wäre es möglich, dass dieser ganze Super-Hype um den Megatrend „Digitalisierung“ überhaupt nicht real ist? Dass es sich lediglich um ein hypothetisches Produkt, um eine Schein-Wirklichkeit –  erzeugt aus der ganzen medialen, politischen, gesellschaftlichen und unternehmerischen Meinungsbildung – handelt? Ein Trip, ausgelöst von einer bewusstseinsverändernden Droge, synthetisiert aus realen, und im Einzelnen betrachtet ansonsten harmlosen Substanzen?

Immer öfter ertappe ich mich in letzter Zeit dabei, dass ich die Berichterstattung über die ganzen Start-ups und deren teils utopisch anmutende Ratings; die unendlich vielen Experten und ihre gut gemeinten Ratschläge; und die schier endlose Zahl an Studien und Prognosen rund um die Digitalisierung nicht mehr hören kann. Schlimmer noch: es widert mich manchmal richtiggehend an. Da ist so viel Selbstzweck dabei. So viel Selbstdarstellung. So viel selbstverliebtes Gelaber. So viel Halbwissen. Alle glauben zu wissen, wie es geht. Was jetzt genau zu tun ist. Wie die jungen Kreativen jetzt die Welt verändern. Und dabei die etablierten Branchen zerlegen. Welche Rollen und Aufgaben deren Führungskräfte eigentlich wahrnehmen müss(t)en. Welche Fehler sie dabei gerade begehen. Wo die Regierung mal wieder versagt. Wie sich die Zukunft entwickelt. Und immer wieder ist die Rede von „müssen, müssen, müssen“. Horrorszenarien werden bemüht, neu erscheinende Studien lösen die Untergangsutopien oder Schlaraffenlandvisionen der vorangegangenen ab, alles findet irgendwie nur noch in Extremen statt.

New Economy 2.0

Wenn ich mir dann die Geschäftsmodelle vieler Start-ups anschaue, die Vita mancher selbsternannter Experten und bloggender Redakteure (oder sind es redaktionell eingesetzte Blogger?), kann ich mich eigentlich nur noch wundern. Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen biegen sich mir zeitweise die Zehennägel hoch, wie mit futuristisch klingenden Jobtiteln, ultimativ-genialen Geschäftsmodellideen oder einfach nur mit lockeren, coolen Zitaten fehlendes/ unzureichendes Know-how oder langjährige Erfahrungen übertrumpft und - oft gepaart mit arrogantem Auftreten - mal eben für „old fashioned“ erklärt werden. Genauso wie es heute wohl selbstverständlich ist, als (Online)Redakteur die Grenzen zwischen persönlichem Kommentar und einigermaßen objektiver Berichterstattung zu ignorieren. Ja, ich fühle mich in letzter Zeit oft in die Seifenblase der New Economy zurück versetzt!

 

Es überrascht mich daher immer weniger, dass mehr und mehr Menschen genauso genervt sind, wenn von „Digitalisierung“ oder „digitaler Transformation“ die Rede ist. Was ich ebenso schade wie gefährlich finde! Denn jenseits der vielen Heilsversprechen und Untergangsszenarien existieren unzählige Möglichkeiten, im privaten wie im unternehmerischen Umfeld von diesen Entwicklungen zu profitieren. Oder an ihnen zu scheitern. Und da ich mich ebenfalls zur Zunft der selbsternannten Experten zähle, meine Vita auch allenfalls oberflächlich vermuten lässt, mit welchen Qualifikationen ich Ansichten und Meinungen vertrete und meine Botschaften auch gelegentlich pathetisch, theatralisch, plakativ, polemisch und ohne Substanz sind, finde ich es ist Zeit für mehr (selbst)kritische Reflexion. Zugegeben, in diesem Format auch (nur) wieder eine Variante der Selbstdarstellung. Wenigstens mit dem Ziel, um mithilfe konstruktiver Dialoge und Diskussionen zurückzukehren auf eine Ebene der professionellen Sachlichkeit.

 

Nehmen wir uns aber zunächst kurz die Zeit, einen Schritt zurück zu treten und zu versuchen, die derzeitige Situation mit ein wenig mehr Abstand zu betrachten. Worum genau geht es eigentlich? Wer sind die handelnden, oder vielleicht wichtiger, die davon profitierenden Akteure? Welcher Betrachtungsrahmen erscheint für meine Pauschalkritik, wenn überhaupt, angemessen zu sein?

Digitalisierung für alle(s)

Sind wir uns einig darüber, dass bis auf wenige Ausnahmen alle Menschen von der Digitalisierungswelle betroffen sind? Egal, wie fortschrittlich das Land, die Einwohner, die Industrie? Die digitalen Themen sind auf breiter Front in Gesellschaft und Wirtschaft angekommen. Internet, Facebook, WhatsApp und Co. sind schon lange keine privaten Gadgets ausschließlich der hippen Youngster in „entwickelten“ Wirtschaftsnationen mehr. Mancherorts sind sie sogar Teil der täglichen Überlebensstrategie: In Kriegsgebieten warnen sich Menschen per Twitter über bevorstehende Angriffe. Bei Katastrophen werden Helferteams über Facebook koordiniert. Angehörige können sich bei Unglücken über Opfer informieren und Überlebende kontaktieren. Darüber hinaus existieren zahllose Beispiel für den privaten wie beruflichen Alltag (auch wenn faktisch nur wenige regelmäßig genutzt werden)...

 

Sind wir uns ebenfalls einig darüber, dass die gesamte weitere Entwicklung der Menschheit eng an den digitalen Fortschritt gekoppelt ist? Dass sie vielleicht sogar von ihm abhängt? Mindestens jedoch die Befriedigung von Bedürfnissen und Bedarfen auf einer anderen, neuen Evolutionsstufe ermöglicht? Denn die seitherigen technologischen Entwicklungen, hauptsächlich gegründet auf den Naturwissenschaften, zielten vorrangig darauf ab, physische bzw. physikalische Anforderungen der Menschen zu unterstützen: Verstärkung oder Substitution der Arbeitskraft durch Werkzeuge. Überwindung der begrenzten räumlichen Mobilität. Verlängerung der zur Kommunikation genutzten Sinnesorgane über die eigene Präsenz hinaus. Erforschung atomarer, chemischer und biologischer Vorgänge. Ihnen fallen bestimmt noch mehr Beispiele ein...

 

Zwei Ausnahmen allerdings stechen aus dieser Entwicklung hervor: die Erfindung des Buchdrucks und die des Internets. Ohne nun wochenlang darüber nachgedacht oder recherchiert zu haben, sind dies wohl die beiden entscheidenden Innovationen, welche mehr als alle anderen die kognitiven Aspekte des Menschseins unterstützt, und vor allem in den letzten fünf Jahrhunderten beeinflusst haben. Jedoch war der Einfluss auf die alltäglichen Lebenssituationen des modernen Menschen bis vor kurzem nicht annähernd so hoch wie jener aus den physikalischen Errungenschaften. (Ich nehme den Aufschrei mancher Soziologen, Theologen und anderer geisteswissenschaftlich geprägter Mitmenschen zur Kenntnis)

 

Doch seit der Erfindung des Internets vor rund 30 Jahren und seiner anschließenden Verbreitung befinden wir uns in einem Paradigmenwechsel, dessen Abschluss noch andauert. Denn erst seit kurzem sind wir dadurch in der Lage, Technologien und Maschinen nicht nur weit über unsere physischen, sondern zunehmend über unsere geistigen Limitierungen hinaus für unsere Zwecke einzusetzen. Was die Bedeutung zusätzlich unterstreicht: Im Unterschied zur vergangenen Umwälzungen passiert dies alles rund um den Globus praktisch in Echtzeit. Wo früher der Austausch zunächst nur verbal, dann in Büchern und auf Papier (mit vielen, umständlichen Transportwegen) möglich war, finden Wissen und Informationen ihren Weg heute digital, unmittelbar und in fast jeden noch so entlegenen Winkel dieses Planeten. Die daraus resultierenden Möglichkeiten, wie auch die Gefahren, haben die meisten von uns noch lange nicht auch nur zum Bruchteil erfasst.

Umgang mit der Wirklichkeit

Wer kann schon abschätzen, was wirklich passiert, wenn die erste Künstliche Intelligenz eine aktuelle(re) Version des Turing-Tests besteht? Welchen Einfluss es wirklich auf die (Kommunikation der) Menschen hat, wenn sich alle über einen elektronischen Simultanübersetzer mit jeder beliebigen Sprache in Echtzeit verständen können? Wie sich die Arbeitsmärkte wirklich verändern, wenn einzelne Apps oder Konzepte wie das autonome Fahren tatsächlich ganze Wirtschaftszweige,  ganze Nationen umgekrempelt haben? Oder wie wirklich die Absatzprognosen der Zukunft aussehen, wenn in wenigen Jahren Assistenzsysteme (auf unseren Smart Devices) den Großteil unserer Einkäufe – unbeeindruckt von den psychologischen Einflussnahmen der Werbebotschaften – vollautomatisch erledigen?

 

Während nun die Menschen im privaten Umfeld eher spielerisch, mit einer ordentlichen Portion Neugier, Mut zur Lücke und Versuch-und-Irrtum-Ansatz diese Entwicklungen Stück für Stück antizipieren, passiert im unternehmerischen Kontext vielerorts praktisch genau das Gegenteil. Obwohl klar ist, dass die Entwicklung weiter fortschreiten wird. Obwohl bereits viele ausgereifte Technologien existieren und deren Nutzenpotenziale sich in zahlreichen Szenarien bewiesen haben. Zugegeben, es sind noch viele Risiken und Gefahren zu überwinden. Und noch viele unbekannte Parameter und fehlende Standards zu bemängeln. Dennoch ist es manchmal so, dass sich die Verantwortlichen in geradezu sturer Weise verweigern. Allen logischen Argumenten, validierten Lösungsvorschlägen und anerkannten Expertenmeinungen zum Trotz. Vielleicht ist ja dies auch des Rätsels Lösung: nicht trotzdem, sondern genau deswegen.

Zustände wie vor 500 Jahren

Im Mittelalter gab es die fahrenden Wander- bzw. Wunderheiler, welche quacksalbernder-weise die unwissende (Land)Bevölkerung mit Geschichten, Mittelchen und Gegenständen der neuen, unbekannten Welt in ihren Bann und ihnen gleichzeitig das Geld aus den Taschen gezogen haben. Bis ihnen niemand mehr glauben oder zuhören wollte. Heute scheinen wieder viele Quacksalber unterwegs zu sein, um die bahnbrechenden Errungenschaften des Informationszeitalters hilfs- oder ersatz-weise für die bestehenden Sorgen und Probleme, vor allem aber für die zunehmend geschürten Zukunftsängste anzupreisen. Ängste, die vorrangig von jenen geschürt werden, welche umgehend auch die richtigen Rezepte und Lösungen zur Hand haben.

 

Kennen Sie auch die paradoxe Wirkung von Handlungsaufforderungen? Je stärker sie jemanden argumentativ in eine bestimmte Richtung ziehen oder lenken möchten, desto größer wird für gewöhnlich der (emotionale) Widerstand. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie kluge oder logische Argumente anbringen. Alleine die Wirkung der Botschaft auf der „Beziehungsseite“ der Kommunikation („da nimmt sich jemand das Recht heraus, mir Weisungen oder Ratschläge zu erteilen“) führt beim Empfänger zum Wechsel von der Sach- in die Gefühls-Ebene. Ein dadurch eingeleiteter Teufelskreis verstärkt sich nun mit jeder weiteren Iteration (A ratschlagt -> B fühlt sich herabgesetzt und widerspricht -> A ratschlagt noch mehr -> B fühlt sich noch mehr …). Vielleicht ist genau dies auch der Ursprung meiner zunehmenden Aversion gegen anfangs erwähnte Botschaften. 

 

Mit jedem Appell betrittst Du ein Königreich – nämlich das Reich der Freiheit und Selbstinitiative des anderen.“ (Schulz von Thun)