Disruption und ihre verborgene Bedrohung

Disruption: Wenn eine Drohung mächtiger wird als ihre Ausführung.

Viele können es nicht mehr hören. Ich selbst gehöre mittlerweile auch dazu. Disruption überall... Angesichts des übermäßigen Wortgebrauchs fällt es echt schwer, sich mit den Phänomenen disruptiver Innovationen auseinanderzusetzen. Doch die damit einhergehenden Risiken verdienen eine ständige Aufmerksamkeit. Einmal, weil tatsächlich eine latente Gefahr besteht, wie von einem weißen Hai lautlos aus der Tiefe des Marktes attackiert zu werden. Zum anderen - und das kommt mir in vielen Diskursen zu kurz - weil sie Lähmungserscheinungen im Tagesgeschäft verursachen.

 

Disruption, Baby, Disruption!

So titelte die FAZ im Dezember voriges Jahr und zerlegte mit anmutiger Spitzzüngigkeit einen Begriff, der damals schon zum Unwort verkommen war. Und die dahinterstehenden „Prediger“ und „Jünger“ gleich mit. Dennoch erscheint auch heute die Welt der Digitalisierung ohne Disruption so geschmacklos wie eine Suppe ohne Salz. Umso überraschender, wie Wenige tatsächlich das Buch „The Innovator’s Dilemma“ von Clayton M. Christensen gelesen haben, in welchem Begriff und Definition ihre Ursprünge fanden. Oder sich wenigstens eingehend mit den dahinterstehenden Konzepten befasst haben.

 

Disruption halten ja viele für eine Kampfansage. So wird der Begriff aktuell gerne verwendet missbraucht, um Außenstehenden eine aggressive Wettbewerbsfähigkeit, gar eine tödliche Überlegenheit zu suggerieren. Oder mit drohendem Zeigefinger auf die maroden Geschäftsmodelle etablierter Unternehmen und deren Verwendung urzeitlicher Methoden hinzuweisen.

 

"Ähnlich wie bei einem Attest vom Arzt: Entweder als legitimierte Bestätigung einer gewissen Fitness (bspw. für einen Tauchlehrgang). Oder als Beleg für eine (vorübergehende) gesundheitliche Einschränkung - den allermeisten auch bekannt als Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung."

 

Ein Attest erlangt seine Glaubwürdigkeit durch einen staatlich zugelassenen Experten. Disruption dagegen wird leider ebenso inflationär wie unreflektiert attestiert. Wen wundert es also, wenn die damit verbundenen Zuschreibungen im Sinne des Erfinders in der überwältigenden Mehrzahl aller Fälle gar nicht erfüllt sind? Egal, es genügen offensichtlich allein die universelle Verwendung und die Mantra-artigen Wiederholungen, um bereits eigene Realitäten zu schaffen.

 

Eine dämliche Angewohnheit! Als stilisiertes Symbol einer modernen Art des (digitalen) Denkens werden Ideen – oder was man dafür hält – dadurch so stark „ikonisiert“, dass eine Auseinandersetzung auf der Sachebene fast unmöglich wird. Fragen Sie bei nächster Gelegenheit mal, was genau an so einer betitelten Innovation oder einem Geschäftsmodell wirklich „disruptiv“ ist. Vielleicht werden Sie des Öfteren auch nur mitleidig angelächelt oder als scheinbar Ahnungsloser mit hohlen Gründerslang-Argumenten zugetextet. Und nebenbei - mit einem Augenzwinkern: Es macht es nicht unbedingt besser, wenn manche Vertreter (plötzlich) im super coolen Gründeroutfit daherkommen oder ihrem Unternehmen die „Du“-Kultur verordnen.

 

Wir haben trotzdem (k)eine Wahl

Wie auch immer wir über Technologie, Veränderung und disruptive Brancheneinflüsse denken mögen. Es ist unbestritten das Wesen unserer Epoche, mit einer hohen, weiter steigenden Zahl an unbekannten Parametern zurecht zu kommen. Selbst fundamentale Gesetzmäßigkeiten verlieren jeden Tag ein Stückchen mehr ihres Wahrheitsanspruchs und eröffnen uns unbekannte – weil neue - Sichtweisen.

 

Nehmen wir die Fortschritte bei der Gensequenzierung, Quantenphysik oder in der Bionik. Dinge sind möglich, die unsere Vorstellungskraft bis vor kurzem als unmöglich eingestuft hätte. So stehen wir heute seltener den je vor der Frage, ob bestimmte Entwicklungen wahrscheinlich sind und wann. Sondern eher, in welchem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und immer öfter auch ethisch-moralischen Rahmen sie ihre Anwendung finden werden.

 

Ob das nun Ängste, Hoffnung oder Neugier erzeugt, wird jeder Mensch – und ich meine das frei von jeglicher Ignoranz oder Verachtung – für sich selbst klar machen müssen. Fakt ist, wir können uns den meisten Entwicklungen nicht entziehen. So schwer es angesichts unserer Grundbedürfnisse nach Kontinuität, Verlässlichkeit, Struktur und Sicherheit auch ist: Wir werden die (technologischen) Fortschritte in irgendeiner Weise früher oder später als Bestandteil unserer Wirklichkeit hinzufügen (müssen). Eine Weile lang können wir das verdrängen oder uns dem entziehen.

 

Auf Dauer kommt Verweigerung jedoch einer Kapitulation gleich. Als Privatperson mag das noch verkraftbar sein (ich persönlich nutze bspw. kein Facebook). Doch bereits unsere Attraktivität als Mitarbeitende oder Führungskraft, unser Arbeits-Markt-Wert, wird immer geringer. Und als Unternehmen ist es in letzter Konsequenz tödlich. Disruption hin oder her: In jeder Branche erfolgt über kurz oder lang ein ernstzunehmender „Angriff“ auf die etablierten Geschäftsmodelle. Wenn er nicht schon bereits begonnen hat...

 

Dieser wird die seither gehandelten Produkte und Leistungen zugunsten signifikant besserer Lösungsangebote vergleichsweise rasch verdrängen. Ohne Illusionen zerstören zu wollen: Nur die wenigsten etablierten Unternehmen werden selbst zu den Angreifenden gehören. Halte ich auch gar nicht für notwendig, denn eine zeitnahe, nachhaltige Antizipation & Adaptation der Entwicklungen ist in den allermeisten Fällen zielführender.

 

Innovate or Die

In meiner subjektiven Wahrnehmung setzen sich immer mehr Verantwortliche ernsthaft damit auseinander. Wird auch langsam Zeit! Leider viel zu häufig setzen sie sich dabei einer weiteren Gefahr aus. Und diese lauert, ganz ohne externes Zutun, im heutigen Tagesgeschäft. Dort, wo wir gelernt haben, dass der anhaltende Geschäftserfolg durch operationale Exzellenz im "long-run" entschieden wird. Die meisten etablierten Unternehmen sind doch so erfolgreich (geworden), weil es ihnen gelungen ist, ihre Produkte und Abläufe im Laufe der Zeit immer weiter zu optimieren. Die Taktik der Anpassung und Verbesserung in kleinen Schritten hat zu einer hochzuverlässigen und hochproduktiven Organisation geführt. Methoden wie Kaizen, KVP oder Six Sigma haben diese Entwicklungen maßgeblich geprägt.

 

Nach monatelanger Indoktrination richten nun endlich alle den Fokus auf Disruption. Aber diese stellt – mit einer wie ich finde ungerechtfertigten Beimischung von Überheblichkeit und Fundamentalkritik – auch ganz selbstverständlich das Bestehende in Frage. Die Kernbotschaft: Nur wer grundlegend innoviert, soll künftig noch eine Chance haben. Und plötzlich kommen in den Unternehmen Zweifel auf: Was ist denn jetzt mit all den geplanten Investitionen in laufende Verbesserungen? „Wir wollen eigentlich die Verwaltung unserer Fertigungswerkzeuge optimieren“ oder: „Wir planen, ein neues CRM-System einzuführen“ oder: „Wir haben vor, die Werkerführung unserer Werkzeugmaschine auf das iPad zu portieren“.

 

Sind all diese Vorhaben jetzt obsolet? Sind sie den Aufwand und die Mühe überhaupt noch wert? Oder sollen wir das alles lieber sein lassen und unsere gesamte Energie auf „den nächsten großen Wurf – the next big thing“ richten? So manche Verantwortliche erstarren angesichts solch fundamentaler Strategiefragen wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange.

 

"Das wäre in etwa so, als würde ich auf dem offenen Meer fürchten, von einem Hai angegriffen zu werden und hörte deswegen auf, weiter zu schwimmen."

 

Mit dem Ergebnis, dass etliche bereits getroffene Investitionsentscheidungen dieser Tage noch einmal auf den Prüfstand gezerrt werden. Mit Blick auf diffuse Marktprognosen, eine unzureichende Industrie 4.0 / Digital-Strategie oder aus purer Unsicherheit werden sie in Frage gestellt, vertagt oder rückwirkend wieder gestrichen. Viele nützliche Ideen für das Tagesgeschäft finden auf einmal kein Gehör mehr, weil sie außerhalb des "Disruptionsradius" liegen.

 

Das halte ich für sehr gefährlich. Vielleicht gefährlicher als die kommenden disruptiven Tendenzen ansich: Denn unsere derzeitigen Produkte und Leistungen, unsere heutigen Wettbewerbsfähigkeiten sind entscheidend davon abhängig. Wie wollen wir die weitere Entwicklung finanzieren, wenn wir jetzt anfangen, unser momentanes Kerngeschäft im Status Quo zu lähmen? Diesen Punkt haben die Start-ups den Etablierten voraus: Sie schleppen keine "alten" Geschäftsmodell-Hypotheken mit sich herum. Dafür haben sie genügend andere Probleme...

 

Wissen wir (noch), was wir tun (sollen)?

Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich rede hier nicht davon, ein totes Pferd zu reiten. Sondern ein (noch) gesundes und tragfähiges Geschäft am Laufen zu halten! Und selbstverständlich findet heute bei jeder Investition ein Abgleich mit einer (demnächst) verfügbaren Gesamt-Strategie für den digitalen Wandel statt, wenn zeitlich und finanziell sinnvoll. Im besten Falle fügen sich neue Investments – durch offene Schnittstellen, vorausschauende Implementierung oder eine universelle Einsetzbarkeit – sowieso in die kommende, wie auch immer aussehende Wertschöpfungs-Architektur ein.

 

Doch falls nicht, dann ist es eben so. Anstehende Investitionen mit konkretem Nutzen für den derzeitigen Geschäftserfolg haben trotzdem noch ihre Berechtigung. Auch wenn der Fokus zur Zeit (zurecht) auf der grundlegenden Erneuerung liegt. Auch wenn wir auf der Suche nach dem alles verändernden Innovationssprung in unserer Branche sind. Operationale Exzellenz, kontinuierliche Verbesserungen und schrittweise Innovationen sind überlebenswichtig. Das wird auch in Zukunft so bleiben.

 

Wir sehen zur Zeit einst hochgelobte Start-ups wie bspw. Theranos scheitern, weil es ihnen – mit und trotz einer scheinbar überzeugenden, vielleicht sogar disruptiven Innovation – nicht gelingt, ausreichend Qualität und Kontinuität in die Umsetzung zu bringen. Vermutlich aus dem gleichen Grund übernimmt beispielsweise Tesla gerade einen etablierten, deutschen Anlagenbauer.